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Briefing

Praxis­­relevante Neuerungen in der Handels­­schieds­­gerichts­­barkeit nach der ICC-Schieds­­ordnung

Der internationale Schiedsgerichtshof der Internationalen Handelskammer mit Sitz in Paris (ICC) ist die führende Institution im Bereich der internationalen Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit. Die ICC hat ihre seit März 2017 geltende Schiedsordnung mit Wirkung zum Januar 2021 aktualisiert (ICC-SchO 2021). Ziel der Reform war einmal mehr die verbesserte Effizienz, Transparenz und Flexibilität von durch die ICC administrierten Verfahren. Die Covid19-Pandemie hat diese allgemeinen Entwicklungen im Schiedsverfahrensrecht zusätzlich beschleunigt. In diesem Briefing beleuchten wir die für ICC-Handelsschiedsgerichtsbarkeit wichtigsten Änderungen. Die Bedeutung einer sorgfältig ausgearbeiteten Schiedsvereinbarung wird durch die Reform weiter zunehmen.


Erleichterungen für Mehrparteienschiedsverfahren

Vor Bildung des Schiedsgerichts war die Einbeziehung Dritter auch nach der ICC-SchO 2017 bereits weitgehend unproblematisch möglich. Daran hat sich nichts geändert. Nach Bildung des Schiedsgerichts kam das hingegen nur mit Zustimmung aller Parteien in Betracht. Gemäß Art. 7 (5) ICC-SchO 2021 besteht nun eine zusätzliche Möglichkeit: Sofern die „neue“ Partei zustimmt und die Terms of Reference akzeptiert, kann das Schiedsgericht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls einen Beitritt auch gegen den Willen einer „alten“ Partei zulassen. Dies stellt aber noch keine Vorentscheidung über die Zuständigkeit des Schiedsgerichts gegenüber der neuen Partei dar.

Die Neuregelung kann insbesondere für Kläger zu unvorhergesehenen Komplikationen führen. Sollte eine Beklagte über sog. Requests for Joinder versuchen, Dritte in das Schiedsverfahren hineinzuziehen, könnte das Schiedsverfahren deutlich aufwendiger und komplexer werden. Zugleich erhöht sich für den Kläger das Kostenrisiko im Fall einer Niederlage. Das Schiedsgericht hat bei der Kostenentscheidung – wie auch hinsichtlich der Einbeziehung des bzw. der Dritten – Ermessen. Gleichwohl sollten sich die Parteien dieses Risikos in Konstellationen mit mehreren Konfliktparteien bewusst sein.


Ausschluss von neuen Parteivertretern

Eine der bedeutsamsten Regelungen betrifft den Wechsel von Parteivertretern im laufenden Schiedsverfahren. Kommt es zu einem solchen – von den Parteien unverzüglich anzuzeigenden – Wechsel, kann das Schiedsgericht alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um einen hieraus resultierenden Interessenkonflikt bei einem Schiedsrichter auszuschließen (Art. 17 (2)
ICC-SchO 2021). Es kann den neuen Parteivertreter insbesondere vollständig oder teilweise vom Schiedsverfahren ausschließen. Mit diesem Eingriff in die Parteiautonomie sollen die Integrität des Schiedsverfahrens gewahrt und Störungen, etwa durch taktisch motivierte Befangenheitsanträge gegen Schiedsrichter, vermieden werden.

Diese Neuregelung weist noch Unklarheiten auf. Zunächst ist nicht unmittelbar ersichtlich, wie ein teilweiser Ausschluss eines Parteivertreters aussehen könnte. Sollte der Sitz des Schiedsgerichts in Deutschland liegen, könnte die Regel zudem im Konflikt mit
§ 1042 Abs. 2 ZPO stehen, wonach Rechtsanwälte als Bevollmächtigte nicht ausgeschlossen werden dürfen. Allerdings verbietet das Gesetz den Parteien nicht, Beschränkungen in der Wahl des Anwalts vorzusehen (z.B. nur Fachanwälte o.ä.). Man kann Art. 17 als eine solche Beschränkung auf Anwälte lesen, die keine Interessenkonflikte beim konstituierten Schiedsgericht auslösen. Dann bestünden im Ausgangspunkt keine Konflikte mit dem nationalen Schiedsverfahrensrecht.


Transparenzpflichten bei der Einbindung von Prozessfinanzierern

Die Parteien sind nach Art. 11 (7) ICC-SchO 2021 verpflichtet, die Identität von nicht am Rechtsstreit beteiligten Dritten offenzulegen, wenn diese ein ökonomisches Interesse am Ausgang des Schiedsverfahrens haben (z.B. Prozessfinanzierer durch eine Erfolgsbeteiligung). Hierdurch soll den Schiedsrichtern erleichtert werden, ihren Unabhängigkeits- und Unparteilichkeitspflichten nachzukommen. Die konkrete Finanzierungsvereinbarung als solche ist nicht offenbarungspflichtig. Von Art. 11 (7) ICC-SchO 2021 nicht erfasst werden konzerninterne Querfinanzierungen, Honorarvereinbarungen zwischen Mandantin und Rechtsanwalt oder hinsichtlich des Schiedsverfahrens unspezifische Finanzierungen
(z.B. allgemeine Bankdarlehen). Auch bestehende Rechtsschutzversicherungen dürften nicht unter die Definition der offenlegungsbedürftigen Umstände fallen.


Erhöhte Transparenz

Die ICC hat verstärkte Begründungserfordernisse des Schiedsgerichts für dessen Entscheidungen eingeführt, um die Transparenz des Schiedsverfahrens zu verbessern. Voraussetzung ist, dass zumindest eine Partei das vorab beantragt (Anhang 2 Art. 5 ICC-SchO 2021). Zusätzliche Anfechtungs- oder Überprüfungsmöglichkeiten in Bezug auf die nunmehr begründeten Entscheidungen folgen hieraus jedoch nicht. Im Zusammenhang mit den Transparenzbemühungen stehen auch die erweiterte Veröffentlichung von Informationen zum Verfahren auf der Homepage der ICC. Den Parteien bleibt es aber unbenommen, einer Veröffentlichung zu widersprechen.

Weiterhin ist keine besondere Vertraulichkeitsregelung für die Parteien in der ICC-SchO 2021 vorgesehen. Dieser Gesichtspunkt bedarf daher bei Bedarf der frühzeitigen und bewussten Gestaltung durch die Parteien, um späteren Streit und unangenehme Überraschungen zu vermeiden.


Mehr beschleunigte Verfahren

Nach Anhang 6 Art. 1 (2) ICC-SchO 2021 liegt der Schwellenwert für die automatische Anwendung des beschleunigten Verfahrens künftig bei bis US$ 3 Mio. Es ist deshalb mit einer steigenden Zahl an beschleunigten Verfahren zu rechnen, die schneller (in der Regel binnen sechs Monaten) und günstiger entschieden werden sollen. Den Parteien steht es weiterhin frei, sich gegen den Schwellenwertautomatismus zu entscheiden (Opt-out/Opt-in).


Erleichterungen für ein digitales und virtuelles Schiedsverfahren

Die Covid19-Pandemie hat die Trends zur Digitalisierung im Schiedsverfahren verstärkt, was sich in der Reform widerspiegelt. So stellt Art. 26 (1) ICC-SchO 2021 klar, dass das Schiedsgericht – auch gegen den Willen einer Partei – eine virtuelle Verhandlung, z.B. per Videokonferenz oder Telefon anordnen kann. Das Schiedsgericht muss zuvor die Parteien anhören und alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass Schiedsgerichte begründete Einwände der Parteien leichtfertig übergehen werden. Anekdotische Berichte legen nahe, dass Schiedsrichter und Parteivertreter regelmäßig einer Meinung bei der Beurteilung der Frage sind, ob sich eine konkrete Verhandlung für die virtuelle Durchführung eignet.

Schriftliche Kommunikation zwischen den Parteien, Schiedsgericht und dem Sekretariat sowie die zugehörigen Dokumente müssen künftig grundsätzlich nicht mehr physisch übermittelt werden (vgl. Art. 3 (1); 4(4); 5 (3); 7 (3) ICC-SchO 2021). Ausreichend ist – auch für die Schiedsklage selbst – eine E-Mail. Hierbei handelt es sich um eine Kodifizierung der flexiblen ICC-Praxis während der Covid19-Pandemie. Allerdings können sich in diesem Zusammenhang praktische Fragen stellen, etwa an wen zugestellt werden soll. Hierfür sollten die Parteien zweckmäßigerweise im Vorfeld Vereinbarungen treffen. Zudem sind zwingende Verfahrensvorschriften am Schiedsort zu berücksichtigen und einzuhalten.


Ausnahmsweise Auswahl des gesamten Schiedsgerichts durch die ICC

In außergewöhnlichen Fällen kann die ICC nach Art. 12 (9) ICC-SchO 2021 alle Schiedsrichter selbst und auch entgegen einer abweichenden Schiedsvereinbarung auswählen, um erhebliche Risiken einer ungleichen und unfairen Behandlung einer Partei zu vermeiden. Damit soll die Wirksamkeit des späteren Schiedsspruchs geschützt werden. Es ist zu erwarten, dass die ICC sehr zurückhaltend mit dieser neuen Möglichkeit umgehen wird. Beispielsfälle können Konstellationen sein, in denen eine Seite alle Schiedsrichter benennen darf, wenn das Recht des Schiedsorts dies nicht zulässt, oder in denen ein Schiedskläger sich mehreren Schiedsbeklagten gegenübersieht, die sich nicht auf einen Schiedsrichter einigen können.


Sonstiges

Art. 10 ICC-SchO 2021 enthält Klarstellungen zur aus Effizienzgründen ggf. sinnvollen Konsolidierung mehrerer Verfahren. Die Reform kodifiziert die bisherige ICC-Praxis und führt so zu mehr Rechtssicherheit.

Sollte das Schiedsgericht in seinem Schiedsspruch über Ansprüche nicht entschieden haben, kann jede Partei binnen 30 Tagen einen Antrag auf einen Ergänzungsschiedsspruch stellen (Art. 36 (3) ICC-SchO 2021).

Sofern die Parteien dies nicht abweichend geregelt haben, kann das Schiedsgericht die Parteien zum Abschluss eines Vergleichs als Maßnahme der effektiven Verfahrensführung ermutigen (Art. 22 (2); Anhang 4 Buchstabe h) (i) ICC-SchO 2021). Hierbei handelt es sich um einen gewissen Paradigmenwechsel. Ob und wie nachdrücklich ein solcher Hinweis erfolgt, dürfte insbesondere von der Besetzung des Schiedsgerichts abhängen. Als (Schieds-)Richter auf eine einvernehmliche Beilegung des Rechtsstreits hinzuwirken, entspricht eher der kontinentaleuropäischen Tradition und wird im common law teilweise immer noch als Überschreitung schiedsrichterlicher Befugnisse gesehen.

Freshfields Client Briefing Praxisrelevante Neuerungen in der Handelsschiedsgerichtsbarkeit
(PDF - 115.5 KB)

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